Beispielstudie
Dr. Özen Odag untersuchte 2007 in einer komplexen Mixed-Methods-Studie das unterschiedliche Leseerlebnis von Männern und Frauen. Es gab bereits einige Evidenz für geschlechtsspezifische Unterschiede in Lektürepräferenzen und Lesemotiven. Nun sollten in dieser Studie die Auswirkungen von Geschlecht, Texttyp und Textinhalt (unabhängige Variablen) auf Gefühl und Erleben während des Lesens (abhängige Variablen) untersucht werden.
Dabei gab es einige methodische Herausforderungen, denn Gefühl und Erleben sind zwei sehr flüchtige und leicht veränderbare psychologische Phänomene und zudem sensibel für Störfaktoren. Zunächst muss entschieden werden, zu welchem Zeitpunkt man die jeweilige Gefühlslage beim Lesen abfragt. Fragt man während des Lesens, werden die Versuchspersonen aus dem Leseerlebnis herausgerissen. Fragt man nach dem Lesen, ist der Großteil des Erlebens unter Umständen wieder vergessen oder ist in der Erinnerung verzerrt. Die Wahl der Örtlichkeit für die Untersuchung stellt ebenfalls eine Herausforderung dar. In der natürlichen Umwelt jeder Versuchsperson gibt es viele Störfaktoren (Geräuschpegel, Art der Wohnungseinrichtung, usw.). Im Labor sind zwar alle Personen den gleichen Bedingungen ausgesetzt, haben aber vermutlich auch ein völlig anderes Leseerlebnis als in ihrem ihnen vertrauten Zuhause. Darüber hinaus steht man vor dem Problem, wie subjektive Informationen über Gefühl und Erleben beim Lesen und Informationen über die Art der Lektüre in quantitative Daten umgewandelt werden können.
Um diese Probleme zu minimieren, entschied sich Odag für eine kombinierte Erhebung von qualitativen und quantitativen Daten (Triangulationsdesign) im Experiment. Qualitative Daten wurden mit Hilfe einer Remindingmethode erhoben: Die Versuchspersonen schrieben an den Rand der Lektüre vereinbarte Kürzel, wenn in ihnen ein Gefühl, eine Erinnerung oder ähnliches aufkam. Diese wurden dann später nach dem Lesen ausformuliert (verbale Daten) und anschließend einer Inhaltsanalyse unterzogen. Zusätzlich wurden nach dem Lesen quantitative Daten in Form eines Fragebogens mit 72 Items für 14 verschiedene Facetten des Leseerlebens (z.B. Spannung, Identifikation und Vergnügen) erhoben.
Das Experiment war ein 2x2x2 –faktorielles Design mit den drei Faktoren Geschlecht (männlich, weiblich), Texttyp (Fiction, Non-Fiction) und Textinhalt (Innenwelt, Außenwelt). Die Auswahl der Texte konnte dabei nicht einfach willkürlich geschehen, weil die Bewertung eines Textes (hier als fiktional oder non-fiktional, die Innenwelt- bzw. Außenwelt betreffend) sehr subjektiv ist. Aus diesem Grund wurde noch ein Vorversuch angestellt, bei dem Literaturexperten die ausgewählten Texte bezüglich ihrer Zuordnung zu den Kategorien analysierten. Dieser Vorversuch wurde sozusagen in die dominante Fragestellung des Gesamtversuchs eingebettet. Damit handelt es sich insgesamt sowohl um Triangulations- als auch Eingebettetes Design (siehe: Mixed-Methods-Designs).
Die Ergebnisse der Untersuchung veranschaulichen sehr gut den Nutzen einer Triangulation: höhere Validität durch zusätzliche, komplementäre Informationen. Die quantitative Methode - der Fragebogen zum Leseerlebnis – führte zu unerwarteten Geschlechtsunterschieden. Z.B. gaben männliche Versuchspersonen an, das Lesen intensiver erlebt zu haben. Mittels der qualitativen Reminding-Methode hingegen ergaben sich keine Unterschiede in der Intensität des Leseerlebens, auch nicht in der empfundenen Nähe zum Text, in den Bezugspunkten, u.v.m. Dafür gaben männliche Versuchspersonen hier mehr positive Emotionen beim Lesen an und wendeten mehrere verschiedene Lesestrategien an (Identifikation mit einzelnen Figuren, aber auch mit der gesamten Handlung), wobei Frauen sich ausschließlich mit Figuren identifizierten.
Diese konträren Informationen quantitativer und qualitativer Methoden lassen sich nun gut in einem Gesamtbild zusammenbringen: Insgesamt gibt es wenige Geschlechtsunterschiede im Leseerleben - vermutlich vor allem in den verwendeten Lesestrategien. Während Frauen sich mit Figuren identifizieren und so bei einem tragischen Handlungsverlauf negative Emotionen der Figur teilen, wechseln Männer in diesem Fall eher auf eine globalere Identifikation mit dem gesamten Handlungsstrang und erleben so trotz Tragik positive Emotionen. Die größeren Geschlechtsunterschiede aus den Daten des Fragebogens entstehen vermutlich dadurch, dass die männlichen Teilnehmer der Studie aufgrund ihrer globaleren Strategie mehr positive Emotionen erleben und so das Geschehen auch mehr an sich heranlassen. Damit empfinden Sie ihre Leseerfahrung laut Fragebogen als intensiver als die weiblichen Teilnehmer. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, dass der Fragebogen als Selbstberichtsverfahren zudem anfällig für Verzerrungen aufgrund von sozialer Erwünschtheit: Im Gegensatz zur Reminding-Methode, die nur eine Beschreibung erfordert, fordert der Fragebogen nach einer Bewertung. Damit könnten die Ergebnisse auch teilweise dadurch erklärt werden, dass Angaben von positiven Emotionen als sozial erwünschter angesehen werden und deshalb ebenfalls zum quantitativen Datenmuster der Studie beigetragen haben könnten.