Dynamischer Denkansatz - "Thinking in Levels"

Aus eLearning - Methoden der Psychologie - TU Dresden
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Im Jahr 1986 entwickelten Fußballfans während der Weltmeisterschaft in Mexiko eine neue Form ihre Begeisterung im Stadion auszudrücken: Sie erfanden die La-Ola-Welle. Die Fans sprangen nacheinander auf, rissen die Arme in die Höhe und setzten sich wieder auf ihre Plätze. Zeitversetzt startete jeweils der nächste Nachbar im folgenden Tribünenabschnitt. Es entstand eine wellenförmige Gruppenbewegung, obwohl die einzelnen Personen nur einfache Auf- und Ab-Bewegungen ausführten. Die Beobachtung des Verhaltens eines einzelnen Individuums ließ somit keine Vorhersage des Gruppenphänomens zu. Dieses Ereignis, dass einzelne Teile oder Individuen einer Gesamtheit ein anderes Verhalten zeigen als das Gesamtsystem, findet man nicht nur im Rahmen der La-Ola-Welle im Stadion sondern auch in anderen Kontexten.

So bewegt sich ein Stau auf der Autobahn beispielsweise als Ganzes rückwärts, obwohl seine Teile (die einzelnen Autos) Vorwärtsbewegungen zeigen. Offensichtlich scheint ein Stau zunächst nur aus Autos zu bestehen. Betrachtet man den Stau auf diese Weise, ist er einfach eine Ansammlung an Objekten, deren Verhalten man studieren kann. Aus Sicht des dynamischen Denkansatzes wäre dies aber eine untergeordnete Betrachtungsebene (= Autos), oder auch ein untergeordneter „Level“. Die Gesamtheit des Staus dagegen wäre die übergeordnete Betrachtungsebene, oder der übergeordnete Level. Werden nun die Elemente eines übergeordneten Levels ausschließlich als Ansammlung von Objekten untergeordneter Level betrachtet, führt dies u.U. zu fehlerhaften Vorstellungen, da man zum Beispiel fälschlicherweise annimmt, sowohl das Level Stau als auch das Level der Autos würde denselben Regeln folgen und geht demnach davon aus, dass sich auch der Stau nach vorn bewegen müsste. Dies ist jedoch nicht der Fall.

Statt anzunehmen, dass der übergeordnete Level nur aus Teilen des untergeordneten Level besteht und dementsprechend dasselbe Verhalten zeigen muss, folgt der dynamische Denkansatz dem Konzept emergenter (oder auch aufsteigende) Level. Übergeordnete Level werden dabei nicht als reine Ansammlung untergeordneter Elemente betrachtet, sondern es erfolgt eine Berücksichtigung weiterer Tatsachen, die durch die Interaktion der Objekte des untergeordneten Level entstehen. Es wird berücksichtigt, dass sich die Zusammensetzung der höheren Level aus den Objekten unterliegender Leveln mit der Zeit ändern kann, etwa dass der Autobahnstau zu Beginn nicht aus denselben Autos besteht wie dies nach zwei folgenden Stunden der Fall ist, sondern das Fahrzeuge an seiner Vorderseite den Stau verlassen haben, dafür jedoch am Stauende neue hinzukamen. Das Objekt eines höheren Levels kann sich somit anders verhalten als die der niedrigeren Level, aus welchen es entstanden ist. Das heißt, indem mehr Fahrzeuge den Stau am hinteren Stauende erweitern als ihn vorn verlassen, bewegt sich der Stau immer weiter nach hinten. Untersucht man nun als Forscher von Staus deren Verhalten, so kann man Regelmäßigkeiten, also Gesetze, feststellen, die das Verhalten gut beschreiben und Staus vorhersagbar machen, ohne dass man etwas über Autos im speziellen wissen müsste. So fährt der Stau rückwärts, hat eine bestimmte Geschwindigkeit und breitet sich an Autobahnkreuzen über Zufahrten aus usw.

Der dynamische Denkansatz ermöglicht es also, ein Phänomen auf der Ebene zu betrachten, auf der es angesiedelt ist, anstatt ein Phänomen immer weiter in seine Einzelteile zu zerlegen. Er zeigt zudem die Probleme auf, die entstehen, wenn man reduktionistisch versucht, das Phänomen nur durch Verstehen der Einzelteile des Level darunter zu begreifen.