Elementarismus und experimentelle Psychologie
Der Elementarismus (auch Elementenpsychologie) basiert auf der Annahme, dass jegliches psychisches Erleben auf die Verbindung und das Zusammenwirken kleinster Elemente zurückzuführen ist. (Bereits im 18. Jahrhundert prägte David Hume den Begriff des Assoziationismus). Man bezieht sich hierbei auf grundlegende mentale Elemente, aus welchen sich die psychische Prozesse zusammensetzen - sinngemäß wurde hier die Idee der "Reduktion" auf kleinste Einheiten von der Chemie übernommen, deren Erfolg zur gleichen Zeit auf einer stringenten Elementenlehre aufbaute (Periodensystem der Elemente). Dementsprechend versuchten Psychologen dieser Strömung, elementare psychische Prozesse mit naturwissenschaftlichen Experimenten zu untersuchen und die Beschaffenheit der Elemente zu bestimmen, aus welchen sich die jeweiligen Prozesse zusammensetzten.
Der Physiologe, Philosoph und Psychologe Wilhelm Wundt begründete im späten 19. Jahrhundert das erste experimentalpsychologische Labor in Leipzig und damit die Leipziger Schule des Elementarismus. Wundt betonte die Wichtigkeit von experimentellen Methoden und trug somit stark dazu bei, dass die Psychologie heute eine naturwissenschaftlich-experimentelle Ausrichtung besitzt. Seine Forschungsansätze sind geprägt von seiner Zeit als Mitarbeiter von Hermann von Helmholtz, wo er bereits mit experimenteller, empirischer Methodik im Bereich der Psychophysik in Berührung kam.
Die Leipziger Schule verfolgte also einen strukturalistischen Ansatz: Der Geist soll ergründet werden, indem man seine Struktur, seine Zusammensetzung aus kleinsten Teilen (siehe Humes Assoziationismus, erkennt. (Beispiel: setzt sich das Geschmackserleben von Zitronenlimonade direkt aus den Wahrnehmungen von süß und sauer zusammen?). Wichtig war dabei die Annahme, dass jedes psychische Element bildhaft war, was sich bereits in Humes Sensualismus abzeichnete, in dem jede Idee letztlich auf einem Sinneseindruck fußte. Eine weitere zentrale Annahme Wundts und seiner Mitarbeiter war, dass der Geist/psychische Prozesse komplett bewusst abliefen (was sich mit der Annahme der Bildhaftigkeit ergänzte). Die "Psyche" sei demnach eine dem Menschen komplett bewusste Instanz, wodurch man Denkprozesse selbst beobachten und analysieren, also rational ergründen könne (im starken Gegensatz zur Annahme der Psychoanalyse, die einen großen Teil der Psyche ins Unbewusste verlagerte). Auf dieser Annahme begründete die zentrale Methode der Leipziger Schule, die Introspektion. Beforscht wurden vor allem psychologische Phänomene wie Wahrnehmung, Denken und Gedächtnis. Diese wurden mit folgenden Methoden untersucht:
- Introspektion:
Bei der Introspektion, auch Selbstbeobachtung genannt, werden geschulte Versuchspersonen (meist Mitglieder des Labors) gebeten, ihr Verhalten und Erleben genau zu „betrachten“ und zu beschreiben um dies im nächsten Schritt mit Hilfe des Psychologen zu analysieren. Die Schulung der sich selbst beobachtenden „Subjekte“ ist von großer Bedeutung, um den sogenannten Stimulus-Fehler zu vermeiden. Er unterläuft der Versuchsperson, wenn Sie nicht mehr die Wahrnehmung des vorgeführten Objekts beschreibt (eine schräg gehaltene Münze würde als „ich sehe eine Ellipse“ korrekt beschrieben werden), sondern das Objekt, welches sie interpretiert („ich sehe einen Kreis“) - was zur Untersuchung des Wahrnehmungsprozesses nicht förderlich ist. Das Verschmelzen der Rollen von Versuchsleiter und Versuchsperson war wegen der Notwendigkeit einer ausgefeilten Beobachtungsschulung also gewollt – und wurde später im [[Behaviorismus)) wegen der damit verbundenen Verzerrung durch Subjektivität kritisiert.
- Reaktionsmethode:
Die Reaktionsmethode diente z.B. zur Messung von Aufmerksamkeitsprozessen mittels chronometrischer Verfahren. Über die Verzögerung der Präsentation von Reizen bis zur Reaktion der Versuchsperson wollte man Einblick in die Gesetzmäßigkeiten der Wahrnehmung erhalten. So fand man z.B. eine Zunahme der Reaktionszeit bei einer zunehmenden Anzahl gleichzeitig präsentierter Stimuli.
- Reproduktionsmethode:
Die Reproduktionsmethode wurde zur Untersuchung von Gedächtnisprozessen eingesetzt, um Zusammenhänge zwischen dem Behalten (und dementsprechend reproduzieren können) von Gedächtnisinhalten und z.B. der Lerndauer oder dem zeitlichen Abstand zwischen Lernen und Reproduktion zu erkunden.
- Experiment:
Wundt vertrat im Rahmen der experimentellen Psychologie einen Ansatz, der strikt auf dem Experiment aufbaute. Dies beinhaltete die aktive Manipulation, also das absichtliche Induzieren bestimmter Sinneseindrücke um die davon ausgelösten Wahrnehmungsprozesse zu untersuchen.
Wichtig war Wundt, dass seine Elementenpsychologie nur zur Untersuchung grundlegender psychischer Prozesse verwendet werden könne (für größere Fragen sah er seine „Völkerpsychologie“ als besser geeignet an). Aus diesem Grund kritisierten die Vertreter des Elementarismus im Sinne der Leipziger Schule die Schule der Denkpsychologie (von ehemaligen Schülern Wundts), welche die Introspektion auch zur Untersuchung und Analyse höherer geistiger Denkprozesse nutzten.
Auf der anderen Seite sahen sich die Elementaristen der Kritik der Gestaltpsychologie ausgesetzt, welche eine holistischere Sichtweise auf das psychische Erleben forderte. Ihre Vertreter kritisierten die Annahme der Elementaristen, dass eine Analyse psychischer Prozesse in einzelne psychische Elemente möglich sei und betonten stattdessen, dass psychische Prozesse nur im Zusammenwirken aller Elemente eines Systems verstanden werden könnten. („Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“)
Eine weitere Kritik kam schließlich aus der Psychoanalyse und Tiefenpsychologie, welche sowohl die Künstlichkeit des (Labor-)Experiments ablehnte, als auch die Annahme, dass psychische Prozesse komplett bewusst und damit der Introspektion zugänglich wären.
Die größte, und auch finale Herausforderung, stellte aber der Behaviorismus dar, der durch die komplette Ablehnung der Untersuchung psychischer Prozesse an sich die Elementenpsychologie und den Introspektionismus fundamental in Frage stellte. Letztlich gipfelte die Unfruchtbarkeit der Elementenpsychologie und ihre Unfähigkeit, tragfähiges und konsensfähiges Wissen (der Elemente) aufzubauen in der „imageless thought“ Debatte zwischen den Denkpsychologen und den Elementaristen, aus welcher der Behaviorismus als „sich freuender Dritter“ hervorging (siehe Denkpsychologie).
Wilhelm Wundts Einteilung der Psychologie in zwei Bereiche, die physiologische Psychologie des Elementarismus und seine Völkerpsychologie führte letztlich aber zur Dominanz der ersteren, besonders noch zu Beginn des 20.Jahrhunderts – während die eher qualitative Völkerpsychologie erst in den letzten Jahren im Sinne einer „Kulturpsychologie“ wiederentdeckt wird.