Agentenbasierte Modellierung: Unterschied zwischen den Versionen
Wehner (Diskussion | Beiträge) (Die Seite wurde neu angelegt: „{{Nav|Navigation|Kognitive Modellierung|Hauptseite}} Artikelinhalt“) |
Wehner (Diskussion | Beiträge) Keine Bearbeitungszusammenfassung |
||
Zeile 1: | Zeile 1: | ||
{{Nav|Navigation|Kognitive Modellierung|Hauptseite}} | {{Nav|Navigation|Kognitive Modellierung|Hauptseite}} | ||
In der agentenbasierten Modellierung (ABM) wird das Verhalten eines Systems als die Interaktion vieler kleiner autonomer (Software-) Einheiten (= Agenten) angesehen. Diese Agenten verfügen über einfache Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten, bringen aber durch ihre Interaktion miteinander oft ein Systemverhalten hervor, welches man aufgrund der einfachen Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten nicht direkt erwarten würde. Die so entworfenen Modelle werden eingesetzt, um zu zeigen, wie einfache Verhaltensweisen der Einzelelemente eines Systems zu einem bestimmten Verhalten des Gesamtsystems führen können. | |||
Häufig wird dieser Ansatz bei der Untersuchung komplexer Systeme verwendet, zum Beispiel sozialer Interaktionen und deren Folgen aber auch der chemischen oder biologischen Interaktion von Organismen oder einzelnen Zellen. Die Modelle bieten so Erklärungsansätze für die Entstehung von Rassentrennung, gewalttätigen Aufständen, Verkehrsstaus oder Massenpanik. Die Annahme der ABM ist, dass Phänomene dieser Art sich in den allermeisten Fällen nicht durch eine „Absicht“, also gezieltem Handeln, einzelner Individuen erklären lassen - im Falle einer Massenpanik zum Beispiel erstrebt kein einzelner Beteiligter, dass Menschen sich gegenseitig erdrücken. Stattdessen werden die Phänomene als Resultat der Befolgung einfacher individueller Regeln und der sozialen Interaktion der Agenten innerhalb eines situationalen Kontextes angenommen – im Falle der Massenpanik also das starke Streben jedes einzelnen Beteiligten auf dem kürzesten Weg zum Ausgang zukommen, zusammen mit der räumlichen Gestaltung des Notausgangs. | |||
'''''Komplexe Systeme''''' besitzen dabei häufig die folgenden Merkmale: | |||
*Wechselwirkung der einzelnen Teile: Das Systemverhalten entsteht durch Agenten und deren Interaktionen. | |||
*Nichtlinearität: Kleine Störungen können zu großen Effekten führen. Ein bekanntes Beispiel ist der sogenannte „Schmetterlingseffekt“. Er wird oft missverstanden in der Form „ein Schmetterlingsschlag in China kann hier einen Sturm auslösen.“ Gemeint ist damit, dass in nichtlinearen dynamischen Systemen nicht vorhersehbar ist, in welchem Ausmaß sich beliebig kleine Änderungen der Anfangsbedingungen des Systems langfristig auf die Systementwicklung auswirken. Besser sollte man also sagen „den Unterschied zwischen einem Sturm hier und keinem Sturm hier kann bereits ein Schmetterlingsschlag in China ausmachen“. Ein Beispiel für einen ähnlichen Effekt ist exponentielles Wachstum, bei dem scheinbar harmlose Prozesse wie die Verdopplung von Bakterien in einer bestimmten Zeiteinheit zu starken Veränderungen führen können, wie zum eben die Besetzung des Nährsystems durch Bakterien, die gerade noch nur ¼ ausmachte, in 2 Zeitschritten aber bereits komplett ist. | |||
*Emergenz: Im System bilden sich neue Eigenschaften oder Strukturen infolge des Zusammenspiels seiner Elemente heraus. Diese Eigenschaften lassen sich aus der isolierten Verhaltensanalyse einzelner Systemkomponenten nicht oder praktisch nicht erklären (für ein interaktives Beispiel aus der Biologie, siehe https://ncase.me/fireflies/). | |||
*Selbstorganisation & Selbstregulation: Es bilden sich stabiler Strukturen ohne ein ordnendes Eingreifen einer hierarchisch höheren oder von außen eingreifenden Instanz. So entstehen z.B. die Rassentrennungsgebiete in amerikanischen Städten durch das Umzugsverhalten der einzelnen Bürger, ohne dass das Ordnungsamt hier eingreifen würde (für ein interaktives Beispiel, siehe https://ncase.me/polygons/). | |||
*Pfadabhängigkeit: Das Verhalten des Systems ist stark von der Vorgeschichte des Systems abhängig. | |||
*Attraktoren: Das System strebt bestimmte Zustände oder Zustandsabfolgen an (Veranschaulichung an einer Vielzahl von Beispielen: http://ncase.me/attractors/). | |||
Aus komplexen Systemen resultieren beispielsweise komplexe Verhaltensmuster, soziale Ansteckung und Kooperation zwischen Agenten, welche zentrale Themen der ABM darstellen: | |||
*'''Komplexe Verhaltensmuster sind räumliche und zeitliche Muster''' wie z.B. die Bevölkerungsaufteilung von Agenten, welche ihren Aufenthaltsort wechseln, weil sie sich mit ihrer Hautfarbe in der Minderheit fühlen. Ihr Umzug in ein Mehrheitsgebiet führt letztlich zu räumlichen Mustern der Rassensegregation, wie sie in US-amerikanischen Städten zu beobachten ist. | |||
*'''Soziale Ansteckung''' beschreibt die Verbreitung einer Entität, Sprachkonstruktion oder eines bestimmten Einflusses zwischen den Individuen einer Population. Diese Verbreitung basiert auf der Interaktion zwischen den Agenten und lässt sich beispielsweise bei Gerüchten, Modeerscheinungen oder Unruhen beobachten (für ein interaktives Beispiel, siehe https://ncase.me/crowds/). Die Modellierung des Prozesses sozialer Ansteckung basiert häufig auf Schwellenwertmodellen (= threshold models). Einen solchen Schwellenwert stellt die Anzahl der Agenten in der Population (bzw. direkten Nachbarschaft eines Agenten) dar, welche über die jeweilige Eigenschaft verfügen müssen, damit der betreffende Agent die Eigenschaft übernimmt. | |||
*'''Soziale Kooperation''' ist besonders wichtig im Falle sozialer Dilemmata, also in dem Fall, dass alle Agenten diejenigen Aktivitäten ausführen, die für sie selbst optimal sind, dies aber letztlich zu einem suboptimalen Gruppen-Outcome führt. Situationen dieser Art erfordern soziale Kooperation. So ist z.B. das Sauberhalten einer öffentlichen Toilette für jeden Einzelnen ein Aufwand. Minimiert jeder Einzelne diesen Aufwand, ist die Toilette aber für niemanden mehr nutzbar. | |||
All diese Themenkomplexe lassen sich nicht durch die isolierte Betrachtung einzelner Agenten beschreiben, da diese nur einfache, scheinbar harmlose Verhaltensregeln und -ziele befolgen. Auch eine Aufsummierung des individuellen Verhaltens führt häufig nicht zu einer ausreichenden Erklärung des Systems. Um ein umfassendes Verständnis zu erlangen, ist es notwendig, verschiedene Ebenen (= [[Dynamischer Denkansatz|Levels]]) des Gesamtsystems zu betrachten und dabei das Prinzip „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ zu beachten. |
Version vom 28. Juli 2018, 21:28 Uhr
In der agentenbasierten Modellierung (ABM) wird das Verhalten eines Systems als die Interaktion vieler kleiner autonomer (Software-) Einheiten (= Agenten) angesehen. Diese Agenten verfügen über einfache Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten, bringen aber durch ihre Interaktion miteinander oft ein Systemverhalten hervor, welches man aufgrund der einfachen Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten nicht direkt erwarten würde. Die so entworfenen Modelle werden eingesetzt, um zu zeigen, wie einfache Verhaltensweisen der Einzelelemente eines Systems zu einem bestimmten Verhalten des Gesamtsystems führen können.
Häufig wird dieser Ansatz bei der Untersuchung komplexer Systeme verwendet, zum Beispiel sozialer Interaktionen und deren Folgen aber auch der chemischen oder biologischen Interaktion von Organismen oder einzelnen Zellen. Die Modelle bieten so Erklärungsansätze für die Entstehung von Rassentrennung, gewalttätigen Aufständen, Verkehrsstaus oder Massenpanik. Die Annahme der ABM ist, dass Phänomene dieser Art sich in den allermeisten Fällen nicht durch eine „Absicht“, also gezieltem Handeln, einzelner Individuen erklären lassen - im Falle einer Massenpanik zum Beispiel erstrebt kein einzelner Beteiligter, dass Menschen sich gegenseitig erdrücken. Stattdessen werden die Phänomene als Resultat der Befolgung einfacher individueller Regeln und der sozialen Interaktion der Agenten innerhalb eines situationalen Kontextes angenommen – im Falle der Massenpanik also das starke Streben jedes einzelnen Beteiligten auf dem kürzesten Weg zum Ausgang zukommen, zusammen mit der räumlichen Gestaltung des Notausgangs.
Komplexe Systeme besitzen dabei häufig die folgenden Merkmale:
- Wechselwirkung der einzelnen Teile: Das Systemverhalten entsteht durch Agenten und deren Interaktionen.
- Nichtlinearität: Kleine Störungen können zu großen Effekten führen. Ein bekanntes Beispiel ist der sogenannte „Schmetterlingseffekt“. Er wird oft missverstanden in der Form „ein Schmetterlingsschlag in China kann hier einen Sturm auslösen.“ Gemeint ist damit, dass in nichtlinearen dynamischen Systemen nicht vorhersehbar ist, in welchem Ausmaß sich beliebig kleine Änderungen der Anfangsbedingungen des Systems langfristig auf die Systementwicklung auswirken. Besser sollte man also sagen „den Unterschied zwischen einem Sturm hier und keinem Sturm hier kann bereits ein Schmetterlingsschlag in China ausmachen“. Ein Beispiel für einen ähnlichen Effekt ist exponentielles Wachstum, bei dem scheinbar harmlose Prozesse wie die Verdopplung von Bakterien in einer bestimmten Zeiteinheit zu starken Veränderungen führen können, wie zum eben die Besetzung des Nährsystems durch Bakterien, die gerade noch nur ¼ ausmachte, in 2 Zeitschritten aber bereits komplett ist.
- Emergenz: Im System bilden sich neue Eigenschaften oder Strukturen infolge des Zusammenspiels seiner Elemente heraus. Diese Eigenschaften lassen sich aus der isolierten Verhaltensanalyse einzelner Systemkomponenten nicht oder praktisch nicht erklären (für ein interaktives Beispiel aus der Biologie, siehe https://ncase.me/fireflies/).
- Selbstorganisation & Selbstregulation: Es bilden sich stabiler Strukturen ohne ein ordnendes Eingreifen einer hierarchisch höheren oder von außen eingreifenden Instanz. So entstehen z.B. die Rassentrennungsgebiete in amerikanischen Städten durch das Umzugsverhalten der einzelnen Bürger, ohne dass das Ordnungsamt hier eingreifen würde (für ein interaktives Beispiel, siehe https://ncase.me/polygons/).
- Pfadabhängigkeit: Das Verhalten des Systems ist stark von der Vorgeschichte des Systems abhängig.
- Attraktoren: Das System strebt bestimmte Zustände oder Zustandsabfolgen an (Veranschaulichung an einer Vielzahl von Beispielen: http://ncase.me/attractors/).
Aus komplexen Systemen resultieren beispielsweise komplexe Verhaltensmuster, soziale Ansteckung und Kooperation zwischen Agenten, welche zentrale Themen der ABM darstellen:
- Komplexe Verhaltensmuster sind räumliche und zeitliche Muster wie z.B. die Bevölkerungsaufteilung von Agenten, welche ihren Aufenthaltsort wechseln, weil sie sich mit ihrer Hautfarbe in der Minderheit fühlen. Ihr Umzug in ein Mehrheitsgebiet führt letztlich zu räumlichen Mustern der Rassensegregation, wie sie in US-amerikanischen Städten zu beobachten ist.
- Soziale Ansteckung beschreibt die Verbreitung einer Entität, Sprachkonstruktion oder eines bestimmten Einflusses zwischen den Individuen einer Population. Diese Verbreitung basiert auf der Interaktion zwischen den Agenten und lässt sich beispielsweise bei Gerüchten, Modeerscheinungen oder Unruhen beobachten (für ein interaktives Beispiel, siehe https://ncase.me/crowds/). Die Modellierung des Prozesses sozialer Ansteckung basiert häufig auf Schwellenwertmodellen (= threshold models). Einen solchen Schwellenwert stellt die Anzahl der Agenten in der Population (bzw. direkten Nachbarschaft eines Agenten) dar, welche über die jeweilige Eigenschaft verfügen müssen, damit der betreffende Agent die Eigenschaft übernimmt.
- Soziale Kooperation ist besonders wichtig im Falle sozialer Dilemmata, also in dem Fall, dass alle Agenten diejenigen Aktivitäten ausführen, die für sie selbst optimal sind, dies aber letztlich zu einem suboptimalen Gruppen-Outcome führt. Situationen dieser Art erfordern soziale Kooperation. So ist z.B. das Sauberhalten einer öffentlichen Toilette für jeden Einzelnen ein Aufwand. Minimiert jeder Einzelne diesen Aufwand, ist die Toilette aber für niemanden mehr nutzbar.
All diese Themenkomplexe lassen sich nicht durch die isolierte Betrachtung einzelner Agenten beschreiben, da diese nur einfache, scheinbar harmlose Verhaltensregeln und -ziele befolgen. Auch eine Aufsummierung des individuellen Verhaltens führt häufig nicht zu einer ausreichenden Erklärung des Systems. Um ein umfassendes Verständnis zu erlangen, ist es notwendig, verschiedene Ebenen (= Levels) des Gesamtsystems zu betrachten und dabei das Prinzip „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ zu beachten.